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Individualität in der DDR: Kreativität „ohne Grenzen“ (30.07.2022)

Mode in der DDR Mode in der DDR | selbstentworfen, selbstgeschneidert | © Walter Schenke

Wir haben um Originalität gerungen, um dem unerträglichen DDR-Mode-Einerlei was entgegenzusetzen. Die eingesetzten Mittel waren sehr kreativ und reichten von Windeln und OP-Tüchern bis zu medizinischen Farbstoffen. Es wurde gerafft, genietet und mit Kartoffeln Punktemuster gedruckt.

Wir waren immer bemüht, uns von anderen zu unterscheiden, obwohl – oder gerade weil – das eine richtige Herausforderung war. Es gab ja nur „Einheitskleidung“ zu kaufen. Alle trugen zum Beispiel die gleichen Sandalen: Echte Römerlatschen, flach, mit zwei Riemchen, in braun. In Ausnahmefällen konnten sich glückliche Träger an schwarzen Modellen erfreuen. Ich weiß heute nicht mehr, wo und wieso ich ein Paar mit DREI Riemchen ergattert hatte, zumindest hob das dritte Riemchen mich stets aus der anonymen Masse hervor und gab oft Anlass zu erstaunten Fragen.

Mode in der DDR | © Walter Schenke Mode in der DDR | © Walter Schenke Mode in der DDR | © Walter Schenke Mode in der DDR | © Walter Schenke Mode in der DDR | © Walter Schenke Mode in der DDR | © Walter Schenke Mode in der DDR | © Walter Schenke Mode in der DDR | © Walter Schenke Mode in der DDR | © Walter Schenke

Auf den Fotos seht Ihr mich und meine Schwester Maria Schenke (www.graue-maus.de) im Jahr 1986 in unseren selbstentworfenen, selbstgeschneiderten, selbstgefärbten und selbstbedruckten Klamotten.

Alles war recht, was anders als blaue oder braune Präsent-20-Hosen oder WISENT-Jeans war: Echte „Oma-Kleidung“, die von Rentnerinnen abgelegt wurde, weil sie diese seit 20 oder mehr Jahren nicht mehr trugen, Charmeuse-Unterröcke und schwarze oder blaue Diakonissenkleider aus der Lumpenkiste, die wir zweckentfremdet kombinierten und die bei den ehemaligen Trägerinnen, wenn sie uns auf der Straße begegneten, mit Erstaunen und Befremden zur Kenntnis genommen wurden.

Unentwegt strickte ich, wo ich auch war, ohne Rücksicht darauf, ob die Situation dazu geeignet war (im Unterricht unter der Bank z.B.), da ich für mich und meine Schwestern und Freundinnen eine Menge ausgefallene Ideen zu verwirklichen hatte, die meist, wenn sie fertiggestellt waren, die Erwartungen nicht erfüllten, was mir aber nicht den Elan nahm, hoffnungsvoll weiterzumachen und mit anderen Nachtschwestern diverse Strickmuster auszutauschen. Wenn das Gefüge aus geduldig neben- und übereinandergesetzten Maschen in Ausnahmefällen dann doch mal zum Lieblingsstück avancierte, währte die Freude oft nicht lang: Nach einigen noch so vorsichtigen Wäschen hielt das Pryla Zell (DDR-Zellwolle) die Form nicht mehr und das gute Stück wurde zu einem von uns abfällig bezeichneten „Junge-Gemeinde-Pullover“: Schlabbrig und verbeult, voller Pills, mit überlangen Ärmeln und in Rocklänge. Damit war es aussichtslos, das echte Lederschild (Levis oder Mustang) der Jeans aus dem Westpaket auf der Rückseite zu präsentieren, sofern in der Schule nicht verlangt worden war, dieses abzutrennen. (Wenn es dich interessiert, wie wir zu Jeans aus dem Westpaket gekommen sind, lies hier weiter).

Bei aller Suche nach Individualität war manches, was wir strickten, dann doch wieder Einheitsware: kettenhemdähnliche „West“over trugen alle im Osten, gefertigt auf Quirl-Stielen. Der geschickte und verständige Ehemann einer Kollegin erwies sich dabei als überaus hilfreich und erwarb mehr als haushaltübliche Mengen von Holzkochlöffeln und Quirlen, um die Köpfe abzusägen und die Enden für ihre Verwendung als Stricknadeln anzuspitzen. Dieselbe Kollegin hatte ihrerseits einen einträglichen Nebenerwerb: Sie reparierte Laufmaschen in Feinstrumpfhosen! Weggeworfen wurde so gut wie nichts. Selbst irreparable Feinstrumpfhosen fanden noch ein zweites Leben und wurden als Läufer für den Fußboden verstrickt.

Bei der Wohnungseinrichtung setzte sich die Kreativität fort: Ich kann mich an zwei runde Teppiche erinnern, die ich aus Paketbindfaden gehäkelt hatte. Dutzende von Lampenschirmen fertigten mein Schwager und ich gemeinsam in Serie, ganz nebenbei hatten wir eine perfekt funktionierende Kleinmanufaktur aufgebaut. Wir hatten immer Bestellungen und zahlungswillige Abnehmer.

Genäht wurde aus Tischdecken, echten OP-Tüchern in kochechten blauem oder grünem Leinen, gefärbten Bettlaken, Gardinen, Mullwindeln, (manchmal auch schon benutzten). Es wurde noch aufgetrennt und Stoff, Knöpfe und Reißverschlüsse recycelt.

Gefärbt und gebatikt wurde im Kochtopf, in der einfachen "Schwarzenberg", der WM-66, die man von Hand mit Wasser befüllen musste, sowie in moderneren "Waschhalbautomaten" und "Waschvollautomaten".

Ketten wurden „gemacrameet“ oder aus Schnürsenkeln mit Vogelfedern gebastelt: Ich konnte die Bestellungen gar nicht abarbeiten, die ich so lange anfertigen konnte, bis mir das Material ausging (Es gab leider nur einmal in meiner Jugend zu Hause Fasanenbraten).

Mit einer Freundin machte ich eine Jugendtourist-Reise in die Schweriner Jugendherberge, deren Höhepunkt in der Anfertigung eines Kleidungsstückes aus Käsetuch bestand. Ich nähte ein nettes Kleid, trug es einige wenige Male und später gelang es mir sogar, es in einer Heimkunstwerkstätte zu Galeriepreis zu verkaufen.

Kombiniert wurde das Gemisch aus Oma-Look und Selbstgefertigten raffiniert mit den ausgewählten Westklamotten, die hin und wieder in Paketen ankamen, deren Ankunft zu den glücklichsten Momenten unserer Jugend zählte. Diese Klamotten wurden getauscht oder weitergegeben, wenn sie nicht passten. Es fand sich immer ein dankbarer Abnehmer, sogar für Damenschuhe in Übergröße, mit denen ich eine Kollegin im Labor überglücklich machte, so dass sie mich freiwillig mit einer „Exquisit“- Bezahlung entlohnte.

Am meisten Spaß machte es, in nächtelangen Modeschauen mit meiner Schwester Klamotten auszuprobieren. Sah etwas „tussimäßig“ aus, war das ein Knock-Out-Kriterium, fanden wir beide dagegen etwas „grenzwertig“, lohnte sich vielleicht das Herumprobieren mit diesem Teil, um es in die Garderobe einzugliedern. Ich frage mich heute, wie man unseren Kleidungsstil bezeichnen könnte. „Nur nicht normal aussehen“ vielleicht? Übrigens brauchten wir nicht erst zu definieren, was tussig aussah: Ganz klar, die DDR-Damen-Einheitsfrisur, gestützt mit Kaltwelle, die Jung und Alt, unabhängig vom Ausgangsmaterial, eine gleiche Haarbeschaffenheit, Volumen und einen Hinterkopf bescherte, aber auch das Problem, nicht in den Regen kommen zu dürfen, wollte man nicht ungewollt zu Angela Davis mutieren. Absolut tussig waren auch weiße Söckchen, egal ob mit oder ohne Rollrand, getragen in Pumps.

Ich schnitt im engeren und weiteren Freundeskreis Haare und stach emotionslos und routinemäßig Ohrringe, ohne Werbung machen zu müssen und natürlich auch ohne Bezahlung. Es sprach sich einfach rum. Angefangen hatte das Haareschneiden bei willigen, alles auf sich nehmenden Zur-Armee-Einberufenen, denen auferlegt wurde, mit kurzen Haaren den Dienst an der Waffe anzutreten. Hier konnte ich meine anfänglichen Hemmungen überwinden, bis meine Haarschnitte ziemlich gefragt waren. Das krasseste Erlebnis hatte ich diesbezüglich in Thüringen: Eine Freundin bestand darauf, dass ich ihr die Haare noch vor meiner nahenden Abfahrt schnitt, mangels besserer Gelegenheit vollbrachte ich das Werk auf ihren ausdrücklichen Wunsch im Halbdunkel einer Toilette des Meininger Volkshauses, in halb alkoholisierten Zustand und mit einer Nagelschere aus der Kosmetiktasche. Manche Kundinnen hielten mit jahrelang die Treue und eine aus alter Gewohnheit bis heute.

Eine besonders innovative Idee ergab sich aus meiner Tätigkeit in der Infektionsabteilung der Hautklinik: Mercurocrom, Brillantgrün, Kaliumpermanganat und andere Farbstoffe wirkten nicht nur gut gegen Bakterien und Hautpilz, sondern steigerten, in einzelnen Strähnen aufs Haar aufgebracht, ungemein die Individualität. Eine Freundin stellte nach einiger Zeit enttäuscht fest, dass ich wohl an Elan verloren haben müsste, da ich „nichts mehr aus mir machte“. Sie vermisste die grünen Strähnchen im wasserstoffblondierten selbst „gepizzelten“ Kurzhaarschnitt, (am eigenen Hinterkopf gelang der oft in Nachtdiensten selbst ausgeführte Haarschnitt meist nicht so gut), an die sie sich offensichtlich schon sehr gewöhnt hatte. Eine andere Färbe-Innovation hatte ich gefunden: Es ergab sich das brillantesten Henna-Rot, wenn man zuerst Blondiercreme verwendete und danach tönende Haarwäsche in Mahagoni anwendete. Das war die reinste Abkehr von den Einheitsfarben auf dem Kopf und stach ins Auge! Und hier noch ein Geheimtipp: Bier oder Zuckerwasser waren völlig biologische Haarfestiger.

Bestätigung gab uns vor allem, wenn wir in sozialistischen Bruderländern nicht sofort als DDR-Bürger entlarvt wurden, sondern durch unsere „Tarnung“ manchmal für Westbürger durchgingen. Ansonsten genügte ja ein Blick auf die Fußbekleidung, um an den Römerlatschen zweifelsfrei den Landsmann auszumachen. Dies galt es mit allen Mitteln zu vermeiden und darauf verwendeten wir eine ganze Menge Energie.


Was ist daraus geworden?

Aus dieser kreativen Energie heraus gab ich 1988 meinen Beruf als Krankenschwester auf und begann in den letzten DDR-Jahren ein Studium in Modedesign. Während des Studiums ereilte mich die Wende und das Klamottenthema war für mich vom Tisch. Es gab ja jetzt jede Menge chice Konfektion. Ich habe mein Diplom im Modedesign zwar gemacht, aber nie in der Branche gearbeitet.

Es ergaben sich neue Tätigkeitsfelder für mein Design - Webdesign kam auf, was man damals noch "Neue Medien" nannte. Das mache ich seither, nächstes Jahr werden es 25 Jahre, zusammen  mit meinem Mann und unserem Mitarbeiter Oliver. Unsere Herangehensweise ist heute noch ganz wie damals: Wir machen alles selbst – entwerfen das Design selbst, bauen eigene Templates für jeden Kunden und haben unser eigenes Content-Management-System. Alles selbst zu machen ist heute "oldscool", und wir können's noch!

Meine Schwester Maria Schenke ist weiter an der heißen Nadel kreativ; entwirft und fertigt schöne und tragbare Teile in ihrem eigenen Atelier Graue Maus in Leipzig.


Christiane Schenke 2021

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