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Perfektionismus? Eine wichtige Erkenntnis (29.01.2016)

Mach die Schublade zu, pack die Lupe weg, das reicht jetzt so! Mach die Schublade zu, pack die Lupe weg, das reicht jetzt so! | © stickasa fotolia.de

Ich hielt mich bisher für eine Perfektionistin. Doch mein Leben hat mir gezeigt, dass es weniger um Details geht, sondern mehr um "das große Ganze". In diesem Text geht es darum, warum es besser für mich ist, den Perfektionismus zu relativieren.

Meist verbindet man mit Perfektion etwas Absolutes, nämlich eine Sache so zu machen, dass es nicht besser geht.

Mein Ziel ist die "relative" Perfektion, also eine Sache so zu machen, dass es – angesichts der Umstände – nicht besser geht.

Immer das Ganze  sehen und von dort aus die Prioritäten setzen!

Ich funktioniere gut, wenn ich allen Dingen, die mir wichtig sind, ihren Platz einräume. So besteht die wahre Lebenskunst für mich darin, ALLE Bereiche meines Lebens und mich selbst im Gleichgewicht zu halten

Das bringt es mit sich, dass ich jede Aufgabe beschränken muss. Und zwar auf das Maß, das ich angesichts meiner Kräfte und ALLER Aufgaben für die jeweilige Tätigkeit bereitstellen kann. Und in diesem Rahmen bemühe ich mich um die bestmögliche Umsetzung. 

Doch so einfach wie das klingt, ist es oft nicht. Denn immer mal wieder schieße ich über's Ziel hinaus.

Warum ist diese Erkenntnis so wichtig für mich?

Selbstbegrenzung zu lernen ist überlebenswichtig für mich. Wenn man mir die Frage stellen würde: "Fällt es Dir schwerer, anzufangen oder aufzuhören?" (diese Frage hörte ich mal in einem Radiointerview), wäre meine Antwort eindeutig: "Mir fällt es schwerer, aufzuhören". Und zwar deshalb, weil es mir so schwer fällt zu sagen: "Das reicht jetzt so!".

Für mich ist es wichtig, mich GENAU zu beobachten und RECHTZEITIG gegenzusteuern. Das ist meine BURN-OUT-PROPHYLAXE!

Jetzt, mit Anfang 50, habe ich erkannt, dass ich hochsensibel bin. Das erklärt zum Beispiel, warum ich so schlecht loslassen kann. Das betrifft auch Aufgaben auf Arbeit. Denn hochsensible Personen sehen einfach mehr und nehmen tiefer wahr. Sie sehen nicht nur die einzelne Aufgabe, sondern holen drum herum noch ganz weit aus. Und finden überall immer noch mehr Arbeit und Optimierungsbedarf, wohin sie auch schauen.

Deshalb wollte mein Sohn als Kind nicht mehr, dass ich ihm bei den Hausaufgaben helfe. Denn es blieb nicht bei der einen Hausaufgabe. Ich sah den Bedarf, den Ranzen komplett auszupacken und neu einzupacken, neue Ordnungssysteme zu schaffen und vieles mehr. Gegen dieses Ausufern einer einzelnen Aufgabe wehrte er sich irgendwann vehement. Da zog er es lieber vor, meine Hilfe ganz abzulehnen.

Wenn man hochsensibel veranlagt ist und nicht aufpasst, geht man über seine Grenzen. Das "Über die Grenzen gehen" ist ja ein Prinzip, um sich zu entwickeln. Deshalb gehört es in meinen Alltag. Dass ich selbständig arbeite, erfordert eine gewisse Grenzenlosigkeit, denn als Selbständiger hängt ja alles vom eigenen Tun ab. Aber auch hier kommt es darauf an, das gesunde Maß zu finden. Man braucht als Gegengewicht, sich mal in Ruhe zu lassen.

Motiviert oder übermotiviert?

"Du bist wenigstens immer motiviert", lobte mich eine Kommilitonin im Studium, als wir uns gemeinsam in einer Phase der Orientierungslosigkeit und Stagnation befanden. Was sie sagte, stimmte. Ich hatte nie in meinem Leben ein Motivationsproblem, ich habe immer alles gegeben, egal was ich getan habe. Die Frage ist freilich, aus welchen Motiven. Das waren durchaus unterschiedliche.

Ich habe mich natürlich über das Kompliment gefreut. Motiviert sein ist ja im Prinzip was Gutes. Aber mir wurde auch bewußt, dass mir eine Art der Selbstbegrenzung fehlt, die andere Menschen in einer natürlichen Trägheit besitzen, wenigstens für einen Moment sagen zu können: "Das ist mir jetzt egal.". Mir scheint, ich muss es mühsam erlernen, dass mir etwas (vielleicht auch nur vorübergehend) egal ist.

Oh, glücklich die Menschen, die sagen können: "Das ist jetzt gerade blöd, macht keinen Spass, dazu habe ich jetzt keine Lust mehr!" Und sich dann einfach umdrehen und gehen. Basta! Irgendwie kann ich das nicht. Fehlt mir das Gen für diese LMAA-Sicht? Welcher innere Antreiber bringt mich dazu, mich lieber auszubeuten, als es wenigstens ab und zu ebenso zu machen?

Meine Erkenntnis: Diese Abgrenzung ist menschlich notwendig! Denn nicht jeder kann und muss ständig die ganze Welt retten. Und mal ehrlich, wieviel Bedeutung hängt wirklich an einer einzelnen Situation oder Aufgabe?

Loslassen und Abstand gewinnen

Meine Arbeit erfordert oft ganz konkret, über die Grenzen zu gehen, zum Beispiel wenn ich nach einem Softwarefehler suche. Da kann ich mich nicht damit rausreden, dass ich eigentlich schon seit einer Stunde keine Lust mehr habe und erschöpft bin. Der Fehler MUSS gefunden werden!  Ich WILL mich konzentrieren, das Problem systematisch untersuchen und scharf nachdenken, bis es geschafft ist! Es ist toll, dass ich mich immer wieder dazu motivieren kann, denn das kann recht unbequem sein. Ich könnte mir allerdings erlauben zu sagen: "Jetzt lege ich die Fehleranalyse erst mal eine halbe Stunde weg und mache einen Spaziergang.". Also mal kurz loslassen. Und danach, mit frischer Kraft und frischem Blick,  finde ich den Fehler möglicherweise ganz spontan.

Bringt viel Herumfeilen wirklich viel?

Aber nicht immer geht es um solche zugespitzten Situationen wie die Fehlersuche, die mir das Äußerste abverlangen. Schreibe ich hier zum Beispiel einen kleinen Text für meine private Homepage, ist es wahrlich nicht nötig, ihn zigmal in bestimmten Formulierungen zu überarbeiten. Davon wird er vielleicht ein kleines bisschen besser, aber nicht wesentlich. Und er wird dadurch auch nicht mehr Leser finden. Wen es interessiert, der liest meinen Text und wen es nicht interessiert, der liest ihn selbst dann nicht, wenn er so geschliffen formuliert ist wie ein Kristall.

Wir wissen ja: Meist ist 80% einer Aufgabe mit 20% Aufwand im Wesentlichen schon gelöst. Und dann kommt der Feinschliff, die letzten 20% bis zur vermeintlichen Perfektion. Und das kostet dann 80% der Zeit und Kraft.Deshalb frage ich mich: Wird die Welt wirklich besser, wenn du alles so genau machst? Oder merkt das gar keiner, weil es kaum was am Gesamteindruck ändert?

Strategien zum Abgrenzen

Eine Situation auf Arbeit: Seit Stunden will ich schon nach Hause gehen, aber sitze immer noch an einer Aufgabe. Ich sehe und finde immer noch was. An der Aufgabe selbst. An den Abläufen rings um die Aufgabe. Das Problem ist fehlende Abgrenzung.

Die Dinge hängen oft zusammen, deshalb läßt sich manches nicht isoliert betrachten. Man kommt von Einem zum Anderen, vom Hundertsten ins Tausendste. Da hilft nur, die Felder vorher abzustecken.  Je besser das Abgrenzen vorher schon gelingt, desto weniger kommt man erst in so eine Situation, aus der man nicht mehr rausfindet.

Vorher das Terrain abstecken
Welches Ziel will ich erreichen?
Woran erkenne ich, dass das Ziel erreicht ist? Wann ist es genug?
Welche Nebenschauplätze könnten sich auftun? Wie will ich mit ihnen umgehen?

Den Körper spüren
In so einer Situation verliert man oft sich selbst. Vergisst sogar Hunger und Durst. Deshalb ist alles gut, was dazu dient, vom Kopf wieder in den Körper zu kommen. "Die Verbindung mit der vitalen Grundschicht halten", nennt das Eduard Schweingruber (in: Der sensible Mensch, 1934). Wie fühlt sich mein Körper? Starr und angespannt? Oder leicht und frei? Mein Körper weiß es besser als mein Kopf.

Den Kreis selber schließen. Die Aufgabe ist eingebunden in ein größeres Ganzes.
Wenn ich mir das präsent halte, kann ich den Schlußstrich ziehen und sagen:

Das reicht jetzt so! Mehr noch, es ist sogar gut. Also, pack endlich die Lupe weg und mach die Schublade zu!


(Erste Kurzfassung veröffentlicht am 15.08.2014, 2016 wieder hervorgeholt und ergänzt)


Christiane Schenke 2021

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